Heute ist Weltfrauentag. Ein Tag der Anerkennung – aber auch ein Tag, der Fragen aufwirft. Wie weit sind wir wirklich mit der Gleichberechtigung? Wird sie uns gegeben, oder müssen wir sie uns nehmen?
Trotz zahlreicher Fortschritte sind Frauen weltweit weiterhin benachteiligt. Laut dem Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschaftsforums haben Frauen global gesehen erst 68,6 % der Gleichstellung erreicht, was bedeutet, dass noch eine Lücke von 31,4 % geschlossen werden muss. Ein Bericht von UN Women zeigt zudem, dass die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Konfliktgebieten seit 2022 um 50 % zugenommen hat. Diese globalen Herausforderungen stelle ich keineswegs infrage. Doch heute möchte ich dich dazu einladen, in deinem persönlichen Umfeld zu reflektieren: Wie kannst du dir das holen, was du brauchst?
Ich bin mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Die vierte in der Reihenfolge. Ich habe gelernt, dass Gleichberechtigung nicht bedeutet, immer das Gleiche zu bekommen, sondern dass wir alle gleichermaßen berechtigt sind – zu allem. Ich habe als Kind vieles geerbt. Kleidung, Bücher, Spielsachen und natürlich auch Fahrräder. Die waren dann schon gefahren, ein bisschen zu groß oder zu klein, mal mit, mal ohne Klingel. Lange Zeit war das normal, bis ich mit 14 mein erstes eigenes, neues Fahrrad bekam. Aber nicht einfach so. Ich habe es mir erst einmal gewünscht, dann eingefordert, argumentiert, meinen jugendlichen Charme spielen lassen, solange bis auch dem letzten im Raum klar war: Ich will nicht warten, bis etwas übrig bleibt oder den Älteren nicht mehr passt – ich will mein eigenes.

Wenn wir von Gleichberechtigung sprechen, meinen wir oft eine Art universelle Gerechtigkeit, eine Balance, eine Welt, in der alle dieselben Chancen haben. Klingt gut. Ist aber so eine Sache. In der Realität existiert nämlich Gleichberechtigung selten von selbst. Sie ist nicht wie Luft oder Wasser, einfach da, sondern sie muss erkämpft, verteidigt und manchmal schlicht eingefordert werden. Und sie ist nicht immer fair. Denn wenn Gleichberechtigung nur bedeutet, dass alle das Gleiche bekommen können müssen, ist das dann wirklich gerecht? Oder fair? Fairness ist nicht dasselbe wie Gleichberechtigung. Während Gleichberechtigung oft als einheitliche Verteilung verstanden wird, geht es bei Fairness darum, individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Als Großfamilienmensch weiß ich ziemlich genau, was das bedeutet. Es gab nicht immer für alle dasselbe, sondern das, was gerade möglich war. Meine älteren Geschwister hatten ihre neuen Dinge, die Jüngeren übernahmen, was weitergegeben wurde. Ich stand dazwischen. War das unfair? Vielleicht. Aber es lehrte mich, dass Fairness nicht bedeutet, dass jeder exakt das Gleiche bekommt, sondern das, was er braucht – oder das, was er bereit ist, sich zu nehmen. Genau wie mein Fahrrad. Ich habe es bekommen, weil meine Mutter mir beigebracht hat, wie man sich emanzipiert, und ich es dann eingefordert habe. Weil ich nicht darauf gewartet habe, dass sich etwas von selbst verändert.
Ich frage dich, wer entscheidet, was fair und gerecht ist? Die Gesellschaft? Dein Team? Deine Familie? Du? Gleichberechtigung wird oft laut, wenn es um Gehaltsfragen, Karrierechancen oder Beziehungen geht. Wir stellen Vergleiche an, messen uns an anderen und kommen nicht selten zu dem Schluss: Ich werde benachteiligt. Das ist unfair und ungerecht. Aber stimmt das? Oder haben wir nur gelernt, Gleichberechtigung als etwas zu sehen, das uns gegeben wird, anstatt etwas, das wir uns nehmen dürfen? Wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen, ist es wichtig zu hinterfragen, ob es tatsächlich äußere Umstände sind, die uns benachteiligen, oder ob wir uns in einer erlernten Hilflosigkeit befinden. Martin Seligman, der Begründer der positiven Psychologie, spricht genau davon: Das Gefühl, auf Ungerechtigkeiten keinen Einfluss zu haben, kann erlernt werden – aber es kann auch umgelernt werden!
Wenn wir erkennen, dass Gleichberechtigung kein Geschenk ist, sondern eine Entscheidung, nehmen wir uns die Macht zurück. Statt zu warten, bis sich Strukturen verändern, können wir aktiv Grenzen setzen, für uns selbst einstehen und unseren Wert klar kommunizieren. Es geht nicht darum, lauter oder härter zu kämpfen, sondern darum, unsere eigene Definition von Gerechtigkeit zu leben. Erkenne du, wann du dich unfair behandelt fühlst – und frage dich: Ist das wirklich so? Wirklich, wirklich? Was kannst du aktiv tun, um deine Situation jetzt zu verändern? Wem gibst du die Macht, über dein Gefühl von Fairness zu bestimmen?
Gleichberechtigung besteht nicht darin, zu hoffen, dass sie kommt, sondern darin, sie sich zu eigen zu machen.
P.S. Ich fahre seit Jahren (wieder) das Fahrrad meiner Mutter. Was auch das mit Gleichberechtigung zu tun hat?

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