top of page

Watte schützt vor Aufprall nicht

Warum es kracht, wenn wir Watte über Angst legen – und wie wir trotzdem einfach weitergehen.


Ich glaube, ich hatte nie Angst. Nicht wirklich. Ich bin mutig, wild - entschlossen. Ich habe mich in neue Länder, in neue Lebensphasen, in immer neue Dinge gestürzt. Ich dachte immer, Angst sei etwas, das man definitiv überwinden kann. Oder einfach nicht braucht. Angst ist laut, schreit „Stop!“ und „hier gehen wir nicht einfach entlang!“. Das Prinzip der Angst ist nichts, was mir beigebracht wurde. Angst kann jedoch sehr hilfreich sein, wenn wir besser nicht aus 100 Meter Höhe eine Klippe herunter springen sollten.


Furcht hingegen ist noch etwas anderes. Sie kommt still. Sie ist leise, aber durchdringend. Sie ist eine Ahnung in der Tiefe. Und sie kommt nicht, wenn alles zu zerbrechen scheint. Sie kommt, wenn alles schön ist. Wenn die Welt in goldenes Licht getaucht ist und die Magnolien blühen. Auf einmal fürchtest du, dass du eine zweite Wahrheit offenbaren musst. Die bricht, enttäuscht und fordert. Furcht schreit nicht „Stop!“, sie stellt Fragen: Was, wenn ich es garnicht steuern, ja kontrollieren kann? Was, wenn ich alles gebe – und es reicht doch nicht? Was, wenn ich nur danebenstehen kann, während jemand, den ich liebe, leidet?


Ich hatte meine Ängste lange schon in Watte gepackt, eingewickelt und beschlossen, ohne sie zu leben. Ob die Rebellion per se eine sinnmachende Antwort war? Doch vermeintliche Angstfreiheit hat auch seinen Preis. Und so kam sie - die Erschütterung.


Ein echter Sturz. Blutig. Kein Bild, kein Symbol, keine Metapher dieses Mal. Wirklichkeit. Ein Verkehrsunfall, mitten im Leben. Hart, ungebremst, schmutzig und endgültig. Plötzlich war alles still. Kein innerer Monolog. Keine Gedanken. Nur diese wuchtige Frage:


Was ist passiert?


Ich war nicht allein. Da waren andere Menschen, die ich mit meiner Angstfreiheit, mit satter Geschwindigkeit, meiner Wildheit, meinem „Wird schon gutgehen und Attacke“ mitgerissen habe. Ich sah sie. Und sah mich. Und ich wusste: Dieser Moment wird nicht einfach vergehen. Eine tiefe Narbe ist geblieben. Nicht nur über dem Auge, sondern in meinem Bewusstsein. Und mit ihr kam das, was wir psychologisch die Veränderungskurve nennen: Zuerst der Schock, die Angst, Panik und der Widerstand – die Sehnsucht, zurück ins „Normal“ zu gehen. Dann: Chaos. Schuld. Scham. Wut. Eine tiefe, zähe Müdigkeit und Traurigkeit. Und irgendwann, Wochen später: die Akzeptanz. Nicht, weil alles gut ist. Sondern weil es anders ist.


Ich bin Coach. Ich begleite Menschen durch Veränderung. Und ich weiß, dass wirklicher Wandel selten mit einem einfachen Entschluss beginnt. Mit dem berühmten „Hebel, den du einfach umlegen darfst“. Sondern mit einem Erschrecken, das du dir scheinbar nicht ausgesucht hast – aber das dich zwingt, genau hinzusehen. Hinzusehen, wo die Angst sich aus dem Wattebausch ent-wickeln darf und ihr zu sagen, jetzt ist gut; come a little bit closer, aber schrei´ mich nicht an!


Tief in uns sitzt die Angst, Kontrolle zu verlieren, nicht zu genügen, jemanden zu enttäuschen, nicht geliebt zu sein. Und ganz unten, unter all dem ausgewickelten Wattebausch, sitzt ein kleines, waches, empfindsames Wesen. Dein inneres Kind. Es fragt: Bin ich sicher? Ist jemand da? Hört mir jemand zu? Sieht mich jemand?


Ich erinnere mich an den Moment, als ich das erste Mal nach dem Unfall in den Spiegel sah. Offene Haut. Schwellung. Spuren und Blessuren. Und da mittendrin: mein Blick. Da war nicht nur eine Frau. Da war auch das Mädchen in ihr, das gerade gelernt hatte: Du bist kein Wattebausch. Und du musst es auch nicht sein. Du bist nicht forever young und auch nicht Sheila aus der Welt der sieben Sagen. Und genau da kam jemand ins Badezimmer. Klein. Echt. Kein psychologisches Konstrukt.


Mein Kind.


Er sah mich mit weit geöffneten Augen an. Ich, mit Verband, blauem Auge, gequältem Grinsen. Mit Wunde. Mit Stille. Er fragte nicht. Aber er spürte alles. Und war ängstlich und wütend.


Ich sah, dass mich jetzt nicht nur mein inneres Kind beobachtet und fordert, hinzuschauen, sondern jetzt lernt mein echtes. Eben wie man dies tut. Wie man fällt. Wie man aufsteht. Wie man mit Narben lebt, ohne sich zu verstecken. Wie Wahrhaftigkeit, wie Angst und Schmerz aussieht.


Wir versprechen unseren Kindern, wenn sie geboren werden, dass die Welt ein schöner Ort ist. Wir versprechen ihnen Gold, Licht, Lachen. Und das soll so! Doch irgendwann sitzen wir da, mit ihnen im Arm, und wissen ziemlich genau: Jetzt darf und muss ich anders ehrlich sein. Jetzt darf ich ihm zeigen, wie man mitten in dieser Welt stehen bleibt – mit offenem Herzen, aber ohne Illusion. Vielleicht ist das etwas, das wir alle lernen dürfen: die Dinge nicht wegzutherapieren. Sondern illusionslos und wahrhaftig aufzuwickeln. Nicht, um Angst und Furcht zu beseitigen, sondern um ihnen einen Rahmen zu geben, in dem man sagen darf:


Ich fürchte mich. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich halte das kaum aus. Und dann gemeinsam zu entdecken, dass genau dort – mitten in der Erschütterung – das Leben noch einmal neu und anders beginnt.


Ich richte mich auf. Binde den Helm fester. Und gehe raus.

Nicht, weil ich mir sicher bin. Sondern weil es einfach weitergeht. Weil es immer weitergeht.


P.S. Zuckerwatte ist übrigens total ekelig!!



 

 
 
 

Comments


bottom of page